Aufbauende Kommunikation und Kooperation in der Opfer-Retter-Beziehung

Kommunikation und Kooperation zum Leben und zum Überleben

Wir Menschen suchen wie alle Lebewesen ein aufbauendes Zusammenwirken mit unserer Umwelt. Wenn das nicht hinreichend gut möglich ist, sterben wir. Zwischen Sterben und gut Leben ist noch ein weiter Raum, den wir mitgestalten können. Ein Raum zwischen einer freudigen, sinnerfüllten Lebensart (durch das neuro-motivationale Annäherungs- und Kohärenzsystem motiviert) und einem extrem stressigen, angstbestimmten Überlebensmodus (durch das Abwendungssystem gesteuert). Im Überlebensmodus sind wir mehr oder weniger existentiell Opfer von gefühlt übermächtigen  Stressoren in unserer Umgebung. Es entsteht eine Täter-Opfer-Beziehung.

Dann brauchen wir erstens eine helfende Kooperation, um wieder in einen Annäherungsmodus zu kommen, um wieder mit Freude leben zu können. Diese Hilfe und Unterstützung erwarten wir ursprünglich wie als Kind primär und bedingungslos von Angehörigen. Da diese oft nur in begrenztem Umfang helfen können, haben die menschlichen Kulturen dazu Rollen, Berufe und Institutionen wie heute das Gesundheitswesen geschaffen. Zweitens brauchen wir einen Schutz vor potentiellen Täter*innen. Dazu wurde früher Rache geübt und heute werden Gesetze, Richter*innen und die Polizei eingesetzt.

Ein doppelköpfiges Dreiecks-Beziehungsmuster mit fliegenden Rollenwechseln

Wenn ein Täter verurteilt und bestraft wird, wird er jetzt von der Institution zum Opfer gemacht. Durch diesen Rollenwechsel wird die Tat gerächt und somit Gere(ä)chtigkeit hergestellt. Um aus diesem kreisenden Beziehungsmuster auszusteigen und wieder in eine aufbauend kooperative Beziehung zu kommen, hat die christliche Religion das Vergeben und die Versöhnung über die Rache gestellt.

Wenn aber die Verletzung noch sehr tief und im weitgehend Unbewussten sitzt, möglicherweise als Schockerlebnis abgespalten wurde und deshalb nicht mehr gefühlt wird, und/oder gar nicht klar auf einen Täter bezogen werden kann, wäre ein Vergeben nur ein oberflächliches Unterfangen. Es löst die Beziehungsverstrickung in diesem Opfer-Dreiecksmuster nicht auf und macht bestenfalls nur eine oberflächliche Kooperation möglich. In der Tiefe aber würde weiterhin der Stress-/Abwendungsmodus aktiv sein und seine negativen Auswirkungen auf den Hormonhaushalt und den Stoffwechsel bis hin zu Genaktivitäten ausführen . So werden dann letztlich Zellen und Organe zu Opfern des ursprünglichen Systemstresses, wie bei Krebs- und anderen sog. chronischen Erkrankungen.

Zum Beispiel fühlen Sie sich eigentlich ganz wohl, wenn da nicht ein Krebsgeschwulst in der Brust wäre. Sie gehen zur Therapie mit dem Wunsch nach Heilung in eine Klinik. Dort bekommen Sie eine Chemotherapie, nach der es Ihnen richtig schlecht geht und Sie sich als sterbenskrankes Opfer fühlen. Faktisch und gefühlt ist jetzt aus dem ärztlichen Retter ein schädigender Täter geworden. Wenn Sie ihm deshalb jetzt Vorwürfe machen und wie ein Richter über ihn urteilen: „schlechter Arzt“, dass er Sie vielleicht nicht richtig aufgeklärt hat oder Ähnliches, fühlt dieser sich als Opfer – besonders dann, wenn Sie Ihre Beurteilung im Internet veröffentlichen.

Das Beispiel kann noch weitergehen, denn der Arzt will nicht in der Opferrolle bleiben, sondern wieder in die Retterrolle kommen. Bei der nächsten Chemo gibt er Ihnen zusätzlich noch Medikamente gegen die Nebenwirkungen der Chemo, wie Anti-Brechmittel, Kortison und womöglich noch Psychopharmaka. So werden Sie wieder zum Objekt und Opfer ärztlichen Handelns – allerdings wird jetzt noch Ihre körperliche Reaktionsfähigkeit auf die Chemo geopfert, Ihre Wahrnehmungsfähigkeit, damit Sie dem Arzt nach der Chemo keine Vorwürfe mehr machen. Die psychischen Wirkungen durch die Medikamente merken eher Ihre Angehörigen. Das Opfer-Retter-Beziehungsmuster zieht seine Kreise…

Jeder von uns kennt schon aus seiner Kindheit jede dieser Rollen. Jeder war einmal Opfer, Helfer, Richter und Täter – mehr oder weniger existentiell. Wir haben alle Rollen als Möglichkeit und Ich-Zustände in uns. Diese können auch innerlich miteinander kommunizieren. Deshalb neigen viele dazu, mit ihren Ich-Zuständen in dieses Beziehungsmuster einzusteigen. Obwohl es stressig ist – für manche wäre es noch stressiger, wenn sei gar keine Beziehung hätten.

Die Kommunikation der eigenen Grundbedürfnisse erlöst aus dem Opferdreiecks-Muster

Die gute Nachricht ist, dass wir durch Abschalten und Loslassen von den äußeren Stressoren, den „Tätern“ und einem Innehalten mit einer Hinwendung zu Annäherungszielen auch den Stoffwechsel bis hin zu den Genen (z.B. der Länge der Telomere) wieder aus dem stressigen Überlebensmodus in den positiven Lebensmodus bringen können (vgl. „Stress-Lösungen“).

Diesen Prozess kann jeder fördern, indem er sich seinem Inneren, insbesondere seinen tiefen Attraktiva wie Bedürfnissen, Wünschen, Anliegen zuwendet und immer wieder diesen folgt (s. „Emotionen und Bedürfnisse“). Manchmal gelingt das nur, wenn man auch seinen Rachegefühlen Raum zur Klärung gibt – nicht zum Ausagieren, wohl aber zur Anklage von „Tätern“ wegen erlittener Verletzungen. Wenn man auch für Rachegefühle Verständnis oder sogar Wiedergutmachung findet, kann das sehr heilsam sein, womöglich eine noch frühere, zunächst noch unbewusste Verletztheit und Verletzlichkeit betreffend. Dann kann ein tiefes Gefühl von Genugtuung und Gerechtigkeit entstehen.

Zusammenfassung

Wege aus der Identifikation hin zur Integration der Rollen im Opfer-Retter-Dreieck:

  • Für Sicherheit sorgen – Vertrauen finden
  • Emotionen, Körpergefühle und Bedürfnisse / Anliegen wahrnehmen und kommunizieren
  • Ohnmachtsgefühle annehmen und ggf. kommunizieren
  • Rollen spielen
  • Beziehung jenseits des Musters aufbauen und halten
  • Inneren Beobachter trainieren / reflektieren

Fragen zur Anregung der individuellen Selbstregulation bei Opfererfahrung – Von der Todesangst zur Lebenslust

  • Selbstwahrnehmung: Gibt es Emotionen? Bedürfnisse?
    Was tut gut? Nicht gut?
  • ‚Worst case‘: Was ist Ihre schlimmste Angst?
  • Gab es eine ähnliche Angst / Ohnmacht / Verletztheit schon früher in Ihrem Leben? In Ihrer Familie?
  • Was brauchen Sie angesichts dieser Angst / Ohnmacht? Um ein Gefühl von Sicherheit / Vertrauen zu finden?
  • Wer oder was kann Ihnen helfen?
  • Welche stimmigen, anregenden oder lustvollen Erfahrungen und Ziele haben Sie?
  • Was können und wollen Sie für Ihr nachhaltiges Wohlbefinden tun?
  • Wer unterstützt Sie? Mit wem haben Sie Freude?