Ein Zusammenhang zwischen Krebs und Verbundenheit mag erst einmal weit hergeholt erscheinen.

Doch alleine schon auf biologischer Ebene ist er offensichtlich. Der Onkologe und Gründer des Arbeitskreises Salutogenese bei Krebs Dr. Walter Weber beschreibt, wie eine normale Zelle zu einer Krebszelle werden kann:

Diese Zelle steht langfristig unter enormen Druck. So ist ihre Lebensumwelt für sie bedrohlich geworden und sie sucht in ihrer Datenbank nach Lösungen, um zu überleben. Lösungen findet sie in der Frühzeit der Evolution, als die Einzeller die Urmeere bevölkerten. Die Krebszelle regrediert sozusagen auf ein Niveau zu einer Zeit in der Evolution, in dem jede Zelle nur für sich selbst verantwortlich war, sich vermehrt und immer wieder ihresgleichen produziert hat. Der Rest der Welt blieb außen vor, diente lediglich als Reservoir für Nahrung und für Ausscheidung.

Diese sichtlich gestresste Krebszelle atmet nicht mehr, sondern schaltet ihre Energiegewinnung von Zellatmung auf Gärung um. Zucker wird dann nicht mehr zu Sauerstoff veratmet, sondern zu Milchsäure vergoren. Diese Milchsäure macht nicht nur die Umgebung der Zelle sauer, sondern isoliert die Zelle auch vom restlichen Körper, so dass sie vom körpereigenen Immunsystem nicht mehr erkannt werden kann.

Krebszellen ziehen sich zurück und sind nicht mehr Teil des Körperganzen. Sie schotten sich ab. Sie werden zu Einzelkämpferinnen in einer feindlichen Welt. Sie werden auch nicht erkannt. Der Körper verliert den Kontakt zu ihren. Sie werden sozusagen zum Niemand – bis sie sich explosionsartig zurückmelden und hellwache Aufmerksamkeit fordern.

Leben wir nicht auch in einer Gesellschaft, in der wir oft die innere Verbundenheit mit dem großen Ganzen und auch mit unseren Mitmenschen verloren haben? Fühlen wir uns oft nicht isoliert, auswegs- und hoffnungslos?

Unser gesellschaftlicher Zusammenhalt bröckelt, wir werden wieder zu Einzelkämpfer*innen, die in einer entfremdeten Welt torkeln und denen nichts und niemand noch verbindlich ist. Funktionieren wir nicht häufig wie Maschinen, entseelt, doch getrieben, sinnentleert und unbezogen? Tief vereinsamt und verloren, auch wenn wir einen großen Bekanntenkreis haben? Werden wir nicht auch häufig missverstanden, missachtet, ignoriert?

Inzwischen hat die Wissenschaft die gesellschaftliche Realität einer wettbewerbsgesteuerten Welt „jeder gegen jeden“ überholt: Neue Erkenntnisse sehen den Motor der Evolution nicht mehr in der Macht des Stärkeren, sondern in der schöpferischen Macht von Integrationsfähigkeit, Gemeinschaftsbildung und Kooperation. Auf nahezu jeder Ebene ist das Leben ein kollektiver Prozess, eine gemeinsame Vision, ein „einer für alle und alle für einen“.

Identität ergibt sich erst durch die Bezogenheit auf andere, wir werden sozusagen erst am Du zum Ich. So hat eine gesunde Gesellschaft die Aufgabe, Individualität und gleichermaßen Verbundenheit zu fördern. Ja, Verbundenheit ist nur echt durch Individualität, und Individualität kann sich nur in Verbundenheit entfalten.

Inzwischen ist Verbundenheit zu einem weltweiten Forschungsthema geworden. Die neuen wissenschaftlichen Forschungen legen nahe, dass die Qualität unserer Beziehungen in engem Zusammenhang mit unserer Gesundheit steht: Sowohl schlechte als auch wenige Beziehungen fördern Krankheit und frühen Tod, Ängste und Depressionen – und zwar mehr als Rauchen, Bluthochdruck, mangelnde Bewegung und schlechte Ernährung.[i]

Starke soziale Verbundenheit führt zur

  • Steigerung der Langlebigkeit
  • Stärkung des Immunsystems
  • Größerer Resilienz ( Widerstandsfähigkeit )
  • Schnellerer Erholung nach Anstrengungen und Krankheit
  • Verringerung von Ängsten und Depressionen und vielen anderen psychischen Erkrankungen
  • Stärkung von Selbstbewusstsein, Vertrauen und Empathie
  • Sinnfindung
  • Vermehrung von Lebensfreude[ii]

 

Menschen mit der Diagnose Krebs fühlen sich häufig isoliert, gemieden, zutiefst verunsichert. Krebs ist ein Tabuthema in unserer Gesellschaft und auch Angehörige sind oft hilflos im Umgang mit Menschen mit der Diagnose Krebs.

Doch Krebs ist ein individueller Ausdruck eines kollektiven Leidens von innerer Vereinsamung, Überforderung und Schweigen.

Dies zu erkennen ist sehr wichtig, denn es befreit von persönlichen Schuld- und Versagensgefühlen. Menschen mit der Diagnose Krebs können so ihre Aufmerksamkeit richten auf die Rebellion der Normen und Traumen, die sie formten und auf darüber hinaus auf einen neuen Kontakt auf Augen- und vor allem Herzenshöhe.

 

Übungen und Inspirationen:

  1. Im Kontakt mit anderen
  • Über Gefühle sprechen
  • Verbundenheit fühlen und zeigen
  • Berührung
  • Gemeinsame Unternehmungen
  • Sinn und Vision finden – im Dialog
  1. In der Introspektion
  • Körperwahrnehmung als Wahrnehmung einer inneren Gemeinschaft von Zellen
  • Dialog mit dem Symptom: Was vermittelt es mir? Welches Trauma liegt ihm zugrunde?
  • Selbstliebe & Lebensfreude
  • Sinn und Vision finden: Weshalb bin ich hier auf dieser Welt? Was sind meine Ziele? Für welche Vision lohnt es sich, gesund zu sein und noch lange zu leben?

 

[i] https://science.sciencemag.org/content/241/4865/540

[ii] Stavrova, O., & Luhmann, M. (in press). Social connectedness as a source and consequence of meaning in lifeThe Journal of Positive Psychology.

https://christophquarch.de/der-mensch-ein-wesen-der-verbundenheit/

Connectedness & Health: The Science of Social Connection