Wege aus dem Krebsloch

Bio-psycho-soziale Aspekte eines „aktiven“ Bewältigungsstils

von Reinhold Williges

Trotz großer Aufklärung und grossen Krankheitsaufkommens stellt die Konfrontation mit der Diagnose Krebs für die Betroffenen eine schwere Lebenskrise dar, die die Endlichkeit des Lebens an sich ebenso akut bewusst macht, wie die plötzliche Hilflosigkeit und Angst vor Verlust der gewohnten Lebensbedingungen.

Das stille Leiden der Patienten

Das Auffälligste an Krebspatienten ist, dass sie so unauffällig sind angesichts der Vielzahl und Schwere der Krankheitsfolgebelastungen:
Die Diagnose wirkt wie ein Stigma, jetzt nicht mehr „normal“ wie die anderen leben zu können. Der „Sturz aus der normalen Wirklichkeit“ (N.Gerdes) ist unumkehrbar, ein Leben, wie zuvor gibt es nicht. Aüsserlich oft erkennbar für die meisten mit dem durch die Chemotherapie verursachten Haarausfall, persönlich durch die körperlich oft schweren Veränderungen und Entstellungen.

Eine nachhaltige schwere Störung ist die Kommunikationsstörung auch und gerade zu den engsten Angehörigen. Aus einer überbesorgten Rücksichtnahme gegeneinander versuchen die Angehörigen den Betroffenen dadurch zu schonen, indem kaum oder gar nicht über krankheitsrelevante Fragen oder Probleme gesprochen wird, die ihn zum Weinen bringen könnten, und der Betroffene, indem er den Angehörigen nach all den Sorgen und Belastungen wegen der Erkrankung nicht auch noch im Alltag psychische Belastungen zumuten möchte. Dadurch wird nahezu alles unterdrückt, was mit dem Thema Krankheit zu tun hat. Es entsteht eine Mauer des Schweigens um den Patienten, hinter der er sich dann unverstanden, verlassen, isoliert und ausgestossen fühlt. Um sich wieder zu den anderen dazugehörig zu fühlen, gibt er eine Normalität und Problemlosigkeit vor, indem er soviel wie möglich sein Leben so zur Schau stellt, wie vor der Diagnose, sich selbst und den Mitmenschen zum Zeichen: „Seht her, es war doch alles gar nicht so schlimm!“ Für diese tapfere Haltung erntet er häufig auch noch grosse Anerkennung, was aber gleichzeitig die indirekte Botschaft beinhaltet: “Wenn du keine Schwäche oder Trauer zeigst, wenn du uns keine Sorgen machst, finden wir dich toll.“ Problematisch ist dabei eine permanente Selbstüberforderung, die nicht selten eine alte sehr vertraute Umgangsweise mit sich und dem Körper aus der prämorbiden Zeit fortsetzt, nur dass der Körper jetzt erheblich geschwächter und reduziert ist. Dies führt zu einer chronischen Erschöpfung mit Selbstzweifel und Versagensgefühlen. Die häufig geäusserte Illusion, den Krebs bekämpfen zu wollen oder zu können, bedeutet de facto permanent die krankheitsbedingten körperlichen Schwächen zu bekämpfen und damit ein Kampf gegen den eigenen Körper. Aussichtslosigkeit und Hoffnungslosigkeit machen sich zunehmend breit, nur dies verleugnet der Patient oder verbirgt es vor den anderen. Der Versuch, durch ständige Verdrängung und Verleugnung die Krankheitsfolgen zu ignorieren, führen ins „Krebsloch“ (R.Williges).

Das Krebsloch

Oft erleben es die Betroffen selbst, wie in einem Loch zu stecken, einem Loch der chronischen Erschöpfung, Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Isolation, Verständnislosigkeit und häufiger Progredienzangst. Selbstzweifel und das Schuldgefühl, sich als lebensuntüchtig zu fühlen im Vergleich zu anderen, lassen das stille Leiden eskalieren.

Alles, was sie im Gesunden nicht erreicht zu haben glauben, erscheint jetzt im Krankenstand noch aussichtsloser. Ihr Lebenskonzept, durch Aufopferung, Selbstlosigkeit und das überwiegende Beachten von Fremderwartungen Anerkennung und Liebe zu bekommen, ist zum Scheitern verurteilt, es ist ein Lebenskonzeptkonkurs.

Wege aus dem Krebsloch

Krebspatienten brauchen professionelle kompetente psychologische Hilfe, um nicht im Krebsloch zu landen oder um aus dem Krebsloch wieder herausgeführt zu werden. Dazu müssen sie zunächst bereit sein, Hilfe anzunehmen, auch die psychoonkologische. Dazu brauchen sie ein neues kompetenteres Krankheitsbewusstsein analog einem neuen Gesundheitsbewusstsein: „Was kann ich dafür tun, um meinen kranken, geschwächten Körper schützen und unterstützen zu können.“ Die Überzeugung, dass man selbst etwas für das bessere Befinden und damit für die Heilungschancen tun kann, ist opportun, einsichtig und weit verbreitet. Die Erkenntnis, dass sich durch die Erkrankung ihr bisheriges Leben in vielen Bereichen unwiederholbar verändert hat, sollte zum Abschied vom alten Lebenskonzept führen. Nur, wenn man das alte Lebenskonzept losgelassen hat, kann man das neue Leben nach der Diagnose mit allen Konsequenzen annehmen und körpergerecht gestalten. Dazu ist Trauerarbeit unverzichtbar, die meistens unterdrückt und verdrängt wird, wie oben ausgeführt. Der Patient muss die Verantwortung für sich und die körperliche Befindlichkeit übernehmen lernen. Mit dem Wissen über die selbstgemachte Wirklichkeit vertraut gemacht, entdeckt und entwickelt er eine neue Kontrollüberzeugung: „Es geht mir so gut, wie ich selber für mich gesorgt habe.“ Mit der Trauerarbeit ist eine bedingungslose Selbstakzeptanz einschliesslich der krankheits- und therapiebedingten Veränderungen anzustreben. Mit der Initiierung eines aktiven Bewältigungsstils kann ein neuer Lebenssinn und eine realistische Hoffnung auf Heilung eingeleitet werden. Beides bedingt sich gegenseitig.

Der aktive Bewältigungsstil

Der aktive Bewältigungsstil beginnt mit der Suche nach Informationen, was krankheits- und therapierelevant sein könnte. Der Patient muss sich selbst zum Experten seiner Erkrankung machen. Die schier unbegrenzten Informationsmöglichkeiten durch das Internet können dazu sehr hilfreich sein. Mit den gefundenen Informationen setzt sich der Patient mit seinen behandelnden Ärzten des Vertrauens auseinander und sucht für sich den Weg seiner Behandlungsmethoden. Dabei und dazu ermutigt ihn der psychoonkologische Psychotherapeut.

Die bio-psycho-soziale Selbstregulation ist ein entsprechender Begriff für Autonomie, der Fähigkeit, seine multiplen Lebensbedingungen zu wählen und zu gestalten, von denen man überzeugt ist, dass sie dem Lebensbedürfnis des eigenen Körpers gut tun bzw. den schädlichen Einflüssen entgegenzuwirken.

Konkrete Verhaltensziele

  • Der Patient braucht Anleitung, Anregung und Hilfe um zur Be-Sinnung, zur Lebensbe- Sinnung zu kommen mit Antworten auf die Fragen:
  • Für was will ich gesund werden?
  • Was ist für mich unverzichtbar, um Freude am Leben zu haben?
  • Was hat mein Leben bisher gestört?
  • Welche Beziehungen tun mir gut und bestehen auch ohne Vorleistungen?

Ein wesentliches Erlebnis- und Verhaltensziel ist eine neue Körperwahrnehmung und –beachtung, seine Leistungsgrenzen zu spüren und zu beachten und seine Erschöpfungs- und Schmerzgrenzen zu respektieren, Erholungs- und Ruhebedürfnisse wahrzunehmen. Ein hilfreiches neues Lebensmotto dafür ist:“ Ich lebe nicht mehr danach, für was bin ich (für euch) gut, sondern danach, was tut mir/meinem Körper gut!“

Dafür ist die Vermittlung von Selbstentspannungsverfahren und dabei insbesondere des Autogenen Trainings von grosser therapeutischer Bedeutung. Das Autogene Training beinhaltet neben Körperwahrnehmung, Kontrollattribution und Autonomie wie kein anderes SE-Verfahren die neue paradoxe Erfahrung, durch Nichts-wollen und Nichts-Machen- Müssen wertvolle Ruhe, Erholung, Wohlfühlen und Genesungschancen zu erleben..

Im Sinne einer gesunden Homoösthase ist auch ein dosiertes Körpertraining anzustreben, bei dem der Patient sich im Ausdauertraining ohne ausser Atem zu kommen, ohne Erschöpfung und Schmerz betätigt.
Wenn der Patient von der Sinnhaftigkeit überzeugt ist, kann er nach ausreichender Recherche auch ergänzende Nahrungsbestandteile (Vitaminpräparate) oder Ergänzungstherapien (Iscador o.ä.) für sich wählen. Alles, was für den Patienten durch sich selbst zur Verbesserung seiner Heilungschancen beitragen könnte, reduziert seine Progredienzängste und damit das allgemeine Stressniveau.

Die sozialen Kontakte sollten auf Stimmigkeit und bedingungsloser Akzeptanz/Respekt überprüft werden. „Falsche“ Freunde sind zu meiden. Ferner gilt es, bisher vergessene Talente, Interessen und Fähigkeiten als Kreativität wieder zu entdecken und auszuleben. Dies können musikalische, künstlerische oder praktische Tätigkeiten sein.

Die praktische Umsetzung von Eigenverantwortung für die eigene Befindlichkeit reduziert ein oft bisher gelebtes Lebensgefühl mit zuviel Aufopferung und zu wenig Autonomie z.B. mit der Unfähigkeit, „Nein“-sagen zu können und schafft günstigenfalls mit der neu entwickelten selbstgemachten deutlich verbesserter Lebensqualität eine neue Lebensfreude, Lebensmotivation und Hoffnung – aus der Not notwendig neu entwickelt. Dies nenne ich den Königsweg in der Krankheitsbewältigung, wenn aus der krankheitsbedingt notwendigen Umstellung der Lebenskonzeption ein lebensqualitätsmässig und salutogenetisch attraktiveres Leben resultiert. Aus meiner langjährigen psychoonkologisch psychotherapeutischen Erfahrung kann ich dies nur bestätigen.