Erfahrungsbericht von Renate Beseler

Es begann im Frühjahr 1996. Ich konnte mein rechtes Bein nicht mehr so richtig ansetzen. Mein Gang wirkte wie leichtes Humpeln – ohne daß ich Schmerzen hatte. Mein Sohn riet mir, einmal eine Krankengymnastin zu fragen, was das sein könnte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß etwas Schlimmeres dahinterstecken könnte. Davon wollte ich jedoch nichts wissen, zumindest nicht vor meiner geplanten großen Geburtstagsfeier zu meinem 60. im Mai. Es sollte auf keinen Fall etwas dazwischenkommen.
Die Feier fand statt. Wir waren 60 Personen (Familie, Verwandte, alte und neue Freunde), und es war einfach super. Alle haben sich sehr viel Mühe gegeben, besonders mein Mann, die Kinder und Enkel. Ich wurde überschüttet mit Musikdarbietungen der Enkelkinder zusammen mit ihrem Vater, mit Gedichten, Liedern und Vorträgen aller Art.
Einige Tage nach diesem Ereignis kamen mir während eines Spazierganges so merkwürdige Gedanken, wie: wenn ich jetzt sterben müsste, wäre das nicht schlimm, denn ich hatte ein schönes, reiches Leben.
Irgendwann im Juni ging ich endlich zum Arzt (Internist, Chiropraktik, Sportmedizin), denn inzwischen hatten sich starke Schmerzen eingestellt im oberen Rücken-, Schulter/Nackenbereich. Er schob dies auf meine ohnehin etwas demolierten Halswirbel, renkte meinen Kopf sanft ein und gab mir Spritzen in Schulter und Nacken.
Wir fuhren für eine Woche zusammen mit unserer Tochter und den beiden Enkelkindern bei herrlichstem Wetter an einen wunderschönen See. Danach verbrachten wir noch einige Tage im Erzgebirge anlässlich einer Einladung zur Hochzeitsfeier meiner Nichte. Ich fühlte mich die ganze Zeit nicht besonders gut. Mir fehlte meine gewohnte Aktivität, und ich war immer froh, wenn man mich in Ruhe ließ. Meine ganze Körperhaltung wurde schief und mein Gang immer merkwürdiger. Beim Laufen war ich total unsicher. Ich vermutete eine gewisse Muskelschwäche im rechten Bein. Ich machte gymnastische Übungen und bestieg jeden Aussichtsturm. Es nützte alles nichts. Auch die Schmerzen wurden stärker und häufiger.
Wieder zu Hause, ging ich erneut zum Arzt. Ich schilderte ihm genau die Art der Schmerzen und, dass mein rechtes Bein mir einfach nicht mehr so richtig gehorchen wollte. Z.B. beim Ankleiden, wenn ich in die Hose schlüpfen wollte, musste ich das Bein mit den Händen hochheben. Daraufhin meinte er nach einem kurzen Blick in meine Akte: „Ja, Sie sind jetzt 60, da geht eben nicht mehr alles so, ich kann nach meiner Bandscheibenoperation auch nicht mehr Tennis spielen.“ Er gab mir dann außer den üblichen Spritzen ein Rezept für „koordinierende Krankengymnastik“. Damit konnte die Krankengymnastin nicht so recht etwas anfangen. Sie hat dann ein einziges Mal vergeblich versucht, telefonisch vom Arzt genaueres zu erfahren, ließ es dann aber dabei bewenden. Sie gab sich sehr viel Mühe mit mir. Aber vergebens. Die Schmerzen blieben, ebenso die schiefe Körperhaltung und die Probleme beim Laufen. Bei jedem Schritt musste ich mich unheimlich konzentrieren. Trotzdem stolperte ich häufig und fiel dabei auch einmal richtig hin. Es wurde immer schlimmer. Die Schmerzattacken kamen immer heftiger, so dass wir beim Autofahren (ich als Beifahrerin) oft anhalten mussten, damit ich mich für kurze Zeit ins Gras oder auf eine Bank legen konnte. Auch meine Hausarbeiten (Wohnung, Wochenendhaus mit großem Garten usw.) musste ich oft unterbrechen. Auch während des Kochens und sogar während der Mahlzeiten habe ich mich kurz hingelegt. Danach ging es dann immer wieder für eine Weile etwas besser.
Im August, als ich gerade mal wieder Spritzen bekam, habe ich dem Arzt gezeigt, dass ich kürzlich beim Eincremen am Hals so einen kleinen Hügel entdeckt hatte. Er tastete und fragte – ganz ärgerlich -: „Seit wann haben Sie das denn?” Er schrieb sofort eine Überweisung für eine MRT = Kernspintomografie aus. Ca. 14 Tage später hatte ich den Termin in einer Röntgenpraxis in Wandsbek.
Nach der Untersuchung rief mich der Röntgenarzt zu sich, bat mich, ein paar Schritte auf- und abzugehen, sah sich das an und meinte dann: „Das geht ja noch ganz gut, aber Sie müssten jetzt sehr bald zu Ihrem Arzt gehen und sich ins Krankenhaus einweisen lassen, denn Sie haben da etwas, was entfernt werden muss.” Wir fuhren also sofort wieder zu meinem Arzt. Er sah mich irgendwie merkwürdig, fast mitleidig, an und schlug vor, möglichst noch am gleichen Tag in die Neurochirurgie des UKE zu gehen, dort hätte man ihm auch schon sehr geholfen. Die Arzthelferin sollte mich telefonisch anmelden, erfuhr jedoch, dass der Professor gerade in einer Besprechung sei.
Also fuhren wir – mein Mann und ich – sofort ins UKE. Glücklicherweise war an diesem Tag – es war ein Dienstag – gerade ambulante Sprechstunde. Die Sekretärin wollte mich erst abweisen, da ich keinen Termin hatte. Ich griff zu einer Notlüge und sagte, dass mein Arzt mich beim Professor avisiert hätte. So durften wir bleiben. Zum Glück stand im Wartezimmer eine Liege, so dass ich mich während der Wartezeit hinlegen konnte. Nachdem alle anderen Patienten fertig waren, kam ein Arzt zu mir (er hatte sich inzwischen meine Röntgenaufnahmen angesehen) und bat mich, ein paar Schritte hin- und herzugehen. Dann musste ich ihm meine Hände zeigen, seine Hand drücken etc. Danach sagte er: „Für den Befund sind Sie noch ganz gut drauf. Haben Sie sich bis jetzt noch selbst versorgt? Was machen wir nun mit Ihnen? Am besten, Sie bleiben gleich hier. Ach nein, morgen ziehen wir wegen Renovierungsarbeiten mit der ganzen Abteilung um in ein anderes Gebäude. Kommen Sie bitte morgen früh um 8 Uhr dort hin.” Das war mir recht, denn so blieb mir noch etwas Zeit, ein paar Sachen zusammenzusuchen und meine drei Kinder zu informieren. An Schlaf war natürlich nicht zu denken.
Am nächsten Morgen – es war Mittwoch, der 14. August 1996, traf ich auf der genannten Station als erste Patientin ein. Man wusste dort noch nichts von mir. Nachdem ich alles erklärt hatte, wurde die Oberschwester sehr nett. Ich durfte mir sogar ein Zimmer und ein Bett aussuchen. Im Laufe dieses Tages sowie auch noch am darauffolgenden Tag fanden alle Voruntersuchungen statt. Der Neurochirurg, der mich operieren wollte, kam zu mir und erklärte mir in ruhiger, freundlicher Art, dass ich einen Tumor hätte, der das Rückenmark bedrängt; daher die Lähmungserscheinungen im Bein. Diese würden durch die OP wohl nicht mehr wieder verschwinden, da die Nerven bereits geschädigt seien. Er müsste, um von hinten an den Tumor heranzukommen, u.a. eine Nervenwurzel (C 6) durchtrennen, was bedeutet, dass ich danach meine rechte Hand und den Arm nicht mehr richtig einsetzen könne. Ich musste dann das Vielen bekannte Horrorblatt unterschreiben: was so alles passieren könnte; von Erblindung über Schlaganfall und Lähmung bis zum Tod. Merkwürdigerweise konnte ich mir das alles anhören, ohne große Angst, so, als ob das Ganze nicht mich betrifft. Nur eines machte mir zu schaffen, wenn ich daran dachte, mich verabschieden zu müssen von meinem Mann, den Kindern und Enkelkindern. Das machte mich sehr traurig. Ich schrieb noch an alle einen Abschiedsbrief. Dabei kullerten die Tränen.
Am Morgen des 16.8.1996 in aller Frühe bekam ich eine Spritze und dann ging’s ab in den O.P. Ich merkte nichts mehr. Als ich viele Stunden später – es war schon später Nachmittag – zu mir kam, versuchte ich sofort, meine Hände und Füße zu bewegen. Hurra, es ging! Mein Mann besuchte mich, das habe ich nur so im Halbschlaf mitgekriegt. Irgendwann sah der Professor nach mir. Ich bedankte mich überschwänglich für diese gelungene Meisterleistung; denn ich nahm ja an, dass nun alle Probleme beseitigt wären. Er antwortete nur kurz: „Ja, das war auch ganz schön schwierig. Wir hatten große Probleme mit der Blutstillung.” Erst viel später wusste ich auch, warum, denn der Tumor hängt direkt an meiner hirnversorgenden Arterie.
Drei Wochen musste ich dort bleiben. Am dritten Tag nach der OP habe ich glücklicherweise eine Lungenembolie überstanden. Worüber ich mich sehr gewundert habe, war, dass ich im Bereich der Narbe zu keinem Zeitpunkt auch nur die geringsten Schmerzen hatte. Nur unerklärlicherweise an einer bestimmten Stelle zwischen Schulterblatt und Wirbelsäule tat es so weh, dass ich immer, wenn ich in Bewegung war, richtig laut jammern musste.
Kurz vor meiner Entlassung erzählte mir der Professor so im Vorbeigehen, dass noch ein Rest des Tumors da sei – nicht so ganz gutartig, aber nur Stufe 2 (natürlich hatte ich keine Ahnung, was das bedeutet) – das müsste nun noch bestrahlt werden. Ich sollte mir in der Strahlenabteilung einen Termin geben lassen.
Auf diesen Termin wartete ich eine Woche. – Eine sehr nette Ärztin begrüßte mich, fragte teilnahmsvoll, wie es mir geht. Ich erzählte, dass ich noch ziemlich erschöpft sei und mir die Schmerzen sehr zu schaffen machen. Sie daraufhin: „Das tut mir sehr leid, nun muss ich Ihnen zusätzlich noch eine schlechte Nachricht geben, nämlich: wir müssen die Bestrahlung leider ablehnen. Der Tumor ist noch zu groß. Er braucht mindestens 60 Gray, und das Rückenmark, was ja unmittelbar danebenliegt und somit nicht ausgespart werden kann, kann höchstens 46 Gray vertragen wegen sonst zu befürchtender Querschnittlähmung.”
Ich konnte das nicht fassen, nicht glauben und saß da als heulendes Elend. Schließlich bat ich darum, den Professor sprechen zu dürfen. Natürlich konnte dieser mir auch nichts Anderes sagen, nur, dass es sich bei meinem Tumor um einen äußerst seltenen Krebs handelt (ein Hämangioperizytom), der glücklicherweise keine Metastasen produziert. Der Professor gab mir den Rat, noch einmal zu dem operierenden Arzt zu gehen und ihn zu bitten, noch einmal zu operieren, damit der Tumor etwas kleiner wird. Ich bekam einen Zettel mit einer handschriftlichen entsprechenden Notiz für den Operateur.
Nun habe ich tagelang vergeblich versucht, den Doktor zu erreichen. Seine Sekretärin kannte mich schon. Endlich hatte ich ihn an der Leitung. Er: „Ich habe jetzt keine Zeit, rufen Sie bitte in einer Stunde wieder an.” Gut, dachte ich, wenn er in einer Stunde telefonisch zu erreichen ist, wird er also dann da sein. Ich hielt es ohnehin für besser, persönlich mit ihm zu sprechen. Also fuhren wir hin. Er war ziemlich genervt, fragte zuerst nach einer Überweisung. Aber außer dem Zettel von der Strahlenabteilung hatte ich natürlich nichts. Dann nahm er sich die Zeit, uns lang und breit zu erzählen, was die Krankenkassen alles nicht bezahlen. Endlich konnte ich mein Anliegen vorbringen. Seine Antwort: „Das ist jetzt nicht mehr Sache der Neurochirurgie.” Ich: „Ja, wer kommt denn sonst in Frage?” Er: „Ich weiß auch nicht, vielleicht HNO oder Allgemein”. Auf meine Frage, was er denn in meiner Lage tun würde, antwortete er: „Ich hätte ja ganz andere Möglichkeiten. – Sie können ja noch einmal in der Strahlenabteilung von St. Georg fragen, aber ich könnte mir denken, dass man Ihnen dort auch nichts Anderes sagen wird.”
Wieder zu Hause, überlegte ich hin und her; einerseits, wenn für Eppendorf das Risiko zu groß ist, gilt dies doch bestimmt auch für die andere Strahlenabteilung. Aber so dasitzen und nichts tun, ging mir auch gegen den Strich. Also entschloss ich mich, es in St. Georg zu versuchen. Mit einer Überweisung von meinem Arzt fuhren wir hin. Die Dame dort: „Wieso kommen Sie denn jetzt? Sie sind ja gar nicht angemeldet, und außerdem ist jetzt Mittagszeit.” Durch meine Tränen, die damals sehr locker saßen, ließ sie sich erweichen, holte ihren Terminplan und gab mir einen schnellstmöglichen Termin. Wieder Warten.
Der Oberarzt sah sich meine Aufnahmen an und sagte: „Ja, wir müssen uns leider der Meinung von Eppendorf anschließen. Der Tumor ist zu groß und somit auch das Risiko. Aber wir schicken Sie nicht weg. Wenn Sie bereit sind, sich hier stationär aufnehmen zu lassen, werden wir versuchen, einen Chirurgen zu finden, der sich an eine nochmalige Operation heranwagt.” Schon am übernächsten Tag meldete sich ein sehr netter Neurochirurg aus St. Georg bei mir auf der Station. Er erklärte mir, dass er aber vor einer OP unbedingt den Operationsbericht aus dem UKE braucht. Er bemühte sich darum, bekam aber aus Eppendorf die Antwort: „Das geht nicht, denn wegen unseres Umzuges ist alles in irgendwelchen Kartons im Keller.” Das wollte ich so nicht einfach hinnehmen. Ich schrieb einen netten Brief an die mir ja schon bekannte Sekretärin. Damit fuhr mein Sohn ins UKE. Die Sekretärin ging mit ihm zusammen in den Keller und beide suchten und fanden den so wichtigen Bericht. Nun veranlasste der Chirurg noch eine Angiografie. Auch das überstand ich bestens. Aber das Ergebnis lautete: zu gefährlich. Da der Tumor direkt an meiner rechten hirnversorgenden Arterie hängt – die linke Seite ist bei mir nicht so gut ausgebildet – bestünde bei einer Operation die Gefahr u. a. der Erblindung, eines Schlaganfalls oder Schlimmeres.
Nun setzten sich alle Ärzte und Physiker der Strahlenabteilung zusammen und berieten. Der Stationsarzt, der sich ganz besonders bemühte, fuhr zu einem Kongress nach Dresden, um auch dort meinen Fall zu erörtern. Schließlich kam man zu dem Entschluss, die tägliche Strahlendosis zu halbieren, in der Hoffnung, dass die Belastung für das Rückenmark auf diese Weise nicht ganz so groß sei. So erklärte es mir der Stationsarzt und meinte, ich hätte gar keine andere Wahl als zuzustimmen, andernfalls wäre ich schon Weihnachten im Rollstuhl. Als ich das bewusste Horrorblatt mit allen aufgezeigten evtl. Risiken unterschreiben sollte, stolperte ich über ein handschriftlich eingesetztes, für mich unlesbares Wort vor „Querschnittlähmung” und fragte, was das denn bedeutet. Er: „Das heißt: Hohe Querschnittlähmung, vom Hals abwärts. Sie wissen doch, so wie bei dem Schauspieler Christopher Reeve, oder wie der heißt.” Das war wieder so ein Schlag für mich, denn bisher dachte ich bei Querschnittlähmung immer nur an eine Lähmung ab unterhalb der Gürtellinie.
Nun ging es los mit den Vorbereitungen. Ich wurde bemalt, um die Stelle zu kennzeichnen und bekam die Anweisung, mich in den kommenden 6 Wochen an dieser Stelle auf keinen Fall zu waschen, nicht einmal Haare waschen dürfe ich in dieser Zeit. Dann wurde eine Maske für mich gebastelt, in die mein Kopf während der Bestrahlung gesteckt werden sollte, damit ich keine Möglichkeit habe, meinen Kopf zu bewegen. Die Bestrahlung begann; 2x am Tag, einmal morgens und einmal nachmittags – 6 Wochen lang.
Bis auf die psychische Belastung – die nagende Angst vor der Querschnittlähmung – ging es mir in dieser Zeit ganz gut. Ich hatte nichts auszustehen. Die Bestrahlung tut nicht weh. Ich bekam mein Essen vorgesetzt, durfte herumlaufen und über’s Wochenende nach der letzten Bestrahlung am Freitag immer bis sonntags abends auf Urlaub nach Hause. An den Wochentagen bekam ich jede Menge Besuch – jeden Tag von meinem Mann – von den Kindern und vielen Freunden. Mein Sohn – damals noch Student, kam fast täglich vorbei. Mit ihm konnte ich wunderbar über alles reden.
Nach ungefähr 3 Wochen stellten sich allerdings Halsschmerzen ein, ich wurde heiser – meine Stimmbänder waren angegriffen. Ich bekam große Befürchtungen, dass meine Stimme wegbleiben könnte (auch eines der im Horrorblatt aufgelisteten Risiken). Das gab sich aber später wieder. Außerdem wurde mir manchmal schrecklich übel und schwindelig. Aber auch das verschwand zum Glück wieder.
In all diesen Wochen hatte ich viel Zeit zum Nachdenken und zum Lesen. Sehr geholfen haben mir z.B. die Bücher von Dr. Walter Weber: „Hoffnung bei Krebs”, „Der Mensch ist mehr als sein Körper” und „Die Seele heilt den Men
schen”, sowie die Bücher von O. Carl Simonton: „Wieder gesund werden” und „Auf dem Wege der Besserung”. Die angegebenen Visualisierungsübungen konnte ich während der Bestrahlungen immer gut anwenden, indem ich mir vorgestellt habe, dass die Strahlen für mich nicht schädlich sind, sondern mir nur helfen.
Was für mich ganz besonders wichtig ist; ich habe während dieser schlimmen Zeit meinen Glauben an Gott wiedergefunden. Außer den Visualisierungsübungen nach Simonton hatte ich – während ich bei der Bestrahlung so auf der Pritsche lag – die kindlich naive Vorstellung, dass ganz oben in der äußersten Ecke des Bestrahlungsraumes ein gütiger, alter Mann saß, der mir freundlich zunickte. Ich habe gebetet, dass alles gut werden möge – und auch fest daran geglaubt. Das alles hat mir ganz bestimmt geholfen, denn ich habe die Bestrahlung gut vertragen – ohne die geringste Hautverbrennung.
Nach insgesamt 8 ½ Wochen, Mitte November 1996, wurde ich entlassen. Anfang Januar 1997 sollte ich für ein paar Tage wiederkommen, zur Nachuntersuchung. Zur Freude aller (denn auch die Ärzte wussten vorher nicht, wie diese seltene Art von Krebs auf die Bestrahlung reagieren würde) hat die Kernspintomografie ergeben, dass der Tumor um die Hälfte kleiner geworden war, nämlich auf jetzt nur noch 2×3 cm. Ich dachte natürlich: nun kann der Rest noch wegoperiert werden.
Inzwischen war der nette, sehr rege Stationsarzt nicht mehr da, sondern durch eine junge Ärztin ersetzt worden. Sie wollte sich mit dem Neurochirurgen in Verbindung setzen und ihn fragen, ob er jetzt zu einer Operation bereit sei. Da sie ihn nicht erwischen konnte, versprach sie mir, mich nach meiner Entlassung zu Hause anzurufen. Ich wartete. 3 Tage. Nichts. Also ergriff ich die Initiative und rief die Ärztin an. Sie: „Ja, ich habe den Arzt inzwischen erreicht, und er hat gesagt ‚lassen Sie bloß die Finger davon’.” Ich: „Und nun? Was geschieht jetzt?” Die Ärztin: „ Sie wissen ja selbst, bestrahlt werden darf nicht noch einmal, und operieren geht auch nicht, vielleicht haben Sie ja 1 – 2 Jahre Ruhe.” Ich stotterte: „Ja und dann? Soll ich dasitzen und warten bis ich gelähmt bin?” Sie: “Ja, so ist es”.
Ich war wie erstarrt. Danach habe ich tagelang nur noch geheult. Ich hatte abends als letztes und morgens als erstes die entsetzliche Vorstellung: ich liege da wie ein Brett, kann mich nicht bewegen, mir nicht allein die Nase putzen, keine Fliege von der Stirn scheuchen und muss um jeden Handgriff betteln. Nein, das will ich auf gar keinen Fall, dann lieber sterben. Also fing ich an, Tabletten zu sammeln.
Ungefähr zwei Wochen ging das so. Dann hatte ich meinen Termin bei einem mir empfohlenen Arzt (Internist und Onkologe), der auf ganz besondere Weise mit seinen Patienten umgeht, z.B. mit Gesprächstherapie, Affirmationen und ganz bestimmten Übungen. Ich erzählte ihm alles und schilderte meine maßlose Angst. Er hörte sich alles ganz geduldig an. Dann sollte ich die Augen schließen und immer wieder – viele Male – den Satz sagen: „Ich habe Angst davor, gelähmt und hilflos zu sein.“ Zuerst ging das nur stockend, unter Tränen, dann etwas gefasster, bis ich den Satz schließlich ohne Emotionen sagen konnte. Als ich die Praxis verließ, war die allergrößte Angst vorbei. Es ging mir viel besser.
Meine Lebensgeister erwachten wieder. Meine frühere Aktivität stellte sich wieder ein. Ich sammelte alle möglichen Informationen von Freunden, Bekannten, aus den Medien, las z.B. das Heft „Signal” von der Gesellschaft für biologische Krebsabwehr. Einmal rief ich im Unfallkrankenhaus Boberg an. Dort hatte man einem Verwandten von uns nach einem Motorradunfall, danach querschnittgelähmt, sehr geholfen. Ich hatte einen, mir völlig unbekannten, sehr netten Arzt an der Leitung. Ich schilderte ihm meine Situation. Er nahm sich unheimlich viel Zeit, redete begütigend auf mich ein und erzählte, dass sie dort mehrere Patienten haben, die nur noch den Kopf bewegen können. Aber auch diese Menschen hängen noch am Leben. Außerdem sagte er mir noch, dass ich Glück gehabt hätte, denn der Arzt, der mich in Eppendorf operiert hat, sei einer der besten überhaupt.
Per Zufall gerieten wir eines Nachmittags im TV in eine Sendung mit Pastor Fliege. Er stellte u.a. einen Wunderheiler vor. Ich ließ mir die Adresse schicken. Dann fuhren wir mehrere Male – so alle 4-6 Wochen – immer 3 Tage hintereinander, zu ihm nach Lübeck.
Bei allem, was ich tat, begleitete mich die Angst vor der Lähmung in 1-2 Jahren. Ich suchte schon nach einem geeigneten Pflegeheim, und meine Gedanken kreisten um Dinge wie z.B. ”Neue Schuhe? Brauche ich nicht mehr.” Oder „So ein wunderschönes gelbes Rapsfeld werde ich vielleicht nie wieder sehen.”
Im Februar 1997 erfuhr ich von Seminaren, die mein neuer Arzt, der Onkologe, 2x im Jahr zusammen mit einem Therapeutenteam für seine Krebspatienten auf Mallorca durchführt. Das nächste sollte demnächst stattfinden. Wir – mein Mann und ich – meldeten uns an. (Zum Glück waren noch zwei Plätze frei.) Auf Mallorca wohnten wir in einem super tollen Hotel mit eigenem Strand an einer wunderschönen Bucht. Die Tage waren ausgefüllt mit vielen Vorträgen und Gesprächen mit den Ärzten, Therapeuten und – was auch sehr wichtig war – mit den anderen Patienten. Morgens, vor dem Frühstück, trafen wir uns am Strand zur Gymnastik. Auch Meditation wurde angeboten. Das Ganze hat uns beiden sehr viel gebracht. Wir haben unheimlich viel gelernt über den Umgang mit der Krankheit und das Zusammenleben miteinander, nicht nur mit dem Partner, sondern überhaupt mit allen Menschen. Nebenbei wurden viele Tipps für interessante Bücher gegeben. So besorgte ich mir zu Hause einige, wie z.B. von Bernie Siegel „Mit der Seele heilen” und „Prognose Hoffnung”, von Lawrence Le Shan „Psychotherapie gegen den Krebs”, oder von Caryle Hirshberg „Gesund werden aus eigener Kraft”, von Jutta Schütz „Ich spüre immer noch die Angst in mir” und von Prof. Ronald Grossarth-Maticek „Krebsrisiken – Überlebenschancen”. Aus allen diesen Büchern konnte ich viel Nützliches und Hilfreiches für mich herausholen. Ganz besonders gut finde ich das Autonomietraining von Prof. Grossarth-Maticek, den wir persönlich in Hamburg während eines Seminars kennengelernt haben. Er betont immer wieder, dass es sehr wichtig ist, sich immer wieder aufs Neue „Lust und Wohlbefinden” zu verschaffen, sich immer wieder mit freudigen Erlebnissen zu versorgen.
Da uns beiden das Seminar auf Mallorca so gutgetan hat, nahmen wir noch zweimal teil, einmal im Herbst 1997 und dann noch einmal 1998. Im Vordergrund stand dabei für mich die intensive und auch erfolgreiche Bearbeitung meines Zentralthemas: die Angst vor der Querschnittlähmung in ein bis zwei Jahren. Dank dieser Therapie verringerte sich meine Angst allmählich.
Auch von zwei Kuren, die mir die Krankenkasse genehmigte, habe ich profitiert. Das erstemal war ich vier Wochen in Graal Müritz in einer biologischen Krebsklinik und das zweitemal habe ich sechs wunderschöne Wochen in einer psychoonkologischen Klinik im Schwarzwald verbracht.
Während eines Urlaubs in einer christlichen Begegnungsstätte, ebenfalls im Schwarzwald, lernte ich einen pensionierten Arzt kennen, der schon sehr vielen Krebspatienten geholfen hatte. Er riet mir, auf alle Fälle Mistel zu spritzen. Ich fand dann in Hamburg auch einen Arzt, der sehr viel von Mistel versteht. Diese Therapie führte ich durch bis ich es nicht mehr vertrug.
Jetzt besuche ich immer noch sehr gern Vorträge und gehe regelmäßig, anfangs in kurzen, später in größeren Abständen – je nach Bedarf – zu meinem Arzt. Ich bin ganz sicher, ohne seine haltgebende Unterstützung hätte ich diese schlimme Zeit nicht so gut überstanden.
Jeweils einmal im Jahr muss ich zur Untersuchung – zur Kernspintomografie. Seit Januar 1997 immer mit dem gleichen Ergebnis: KEINE VERÄNDERUNG – TUMORGRÖSSE IMMER NOCH 2×3 cm. Anfangs war ich enttäuscht, denn ich hatte gehofft, dass der Tumor kleiner wird und schließlich ganz verschwindet, aber jetzt bin ich auch so sehr zufrieden.
Nachdem die gewissen, von dieser jungen Ärztin in St. Georg prognostizierten 1-2 Jahre vergangen waren, ging es mir zusehends besser. Die immer noch vorhandenen Schmerzen im Schulter/Nackenbereich wurden seltener und weniger. Ich fand zunehmend wieder mehr Freude am Leben, und die Angst ist auf ein Minimum geschrumpft. Jetzt – gut sechs Jahre nach der OP – bin ich (na, ich möchte sagen, zu 90%) zuversichtlich, dass mir nichts mehr passieren kann.
Ich glaube, dass ich unwahrscheinliches Glück gehabt habe, dass ich immer zur richtigen Zeit bei den richtigen Ärzten gelandet bin und auch immer das Richtige getan wurde. Ich bin voller Dankbarkeit dafür, dass das Schicksal (also Gott) es so gut mit mir meint. Ich habe eine Menge gelernt, und ich lebe jetzt viel intensiver als vor dem ganzen Trouble. Ich habe das große Glück, in einer intakten Familie zu leben und vor allem einen Partner zu haben, auf den ich mich immer hundertprozentig verlassen kann. Außerdem habe ich viele liebe, nette Freunde, Verwandte und Nachbarn. Ich kann das Leben genießen, mich über alles Mögliche freuen, über die Natur, die Sonne, die Wolken, das Geplätscher des Wassers an einem See, die Blumen und Pflanzen in unserem Garten, die paradiesische Ruhe in unserem kleinen Wochenendhaus, Spaziergänge, Theaterbesuche, Zusammensein mit Familie und Freunden usw.
Auch physisch geht es mir ganz gut. Ich bin zwar im Vergleich zu den meisten meiner gleichaltrigen Freunde und Bekannten weniger belastbar – ich werde schnell müde und erschöpft – aber den normalen Alltag kann ich bewältigen, mit entsprechenden Pausen, und mit Hilfe meines Mannes. Darüber bin ich sehr froh.
Inzwischen habe ich mich bedankt bei allen Ärzten, die mir so geholfen haben. Auch die junge Ärztin aus St. Georg habe ich aufgesucht und ihr erzählt, wie sehr ich unter der Vorhersage von 1-2 Jahren in dieser Zeit gelitten habe. Sie war sehr betroffen und meinte nur: „Ja, das haben wir damals alle geglaubt.“ Ich habe sie gebeten, solche oder ähnliche Prognosen den Patienten gegenüber nicht wieder abzugeben. Zum Glück konnte sie in der Zwischenzeit nicht mehr viel Unheil dieser Art anrichten, denn sie hat lange pausiert, da sie 2x Mutter geworden ist.
Zum Abschluss möchte ich jedem, der eine ähnliche schlimme Diagnose erhält, raten: Nicht in die Ecke setzen und resignieren, sondern nach Lösungen suchen und aktiv werden.
(Oktober 2002)