Die Frage nach einer komplexen Dynamik

Der amerikanisch-israelische Medizinsoziologe und Stressforscher Aaron Antonovsky hat die Frage der Salutogenese in die Wissenschaft eingebracht: Wie entsteht Gesundheit? Wie können Menschen sich gesund entwickeln?

So einfach diese Frage erscheint, so stark stoßen wir auf Widersprüche in gewohnten naturwissenschaftlichen Denkmustern, wenn wir ihr konsequent und in die Tiefe gehend nachgehen.

Gesundung ist ein zielgerichteter Prozess

Heilungsvorgänge haben ein Heil-/Ganz-/Gesund-Sein zum Ziel, eine Funktionalität des Gesamtorganismus, die eine Integration und ein Zusammenwirken aller Teile beinhaltet. (S.u.)

Mit den Begriffen der Chaosforschung sprechen wir von einem deterministischen Chaos, wenn Lebewesen sich einem komplexen attraktiven Zustand (Attraktor oder Attraktiva) in vielen aufeinander folgenden Schritten, also rekursiv annähern.

Im Rahmen der Annäherung an den gesunden Attraktor muss der Organismus auch Bedrohungen wie Gifte, Krankheitskeime, Angreifer und Ähnliches (in der Chaosforschung „Repelloren“ genannt) abwenden. (Siehe dazu auch die neuro-motivationalen Annäherungs-, Abwendungs- und Kohärenzsysteme unter: „Bedürfnis und Emotion“ und „Stress – Lösung“.)

Gesunde Entwicklung findet in Resonanz mit größeren Ganzheiten statt

Weil das Ziel der Heilungsvorgänge eine stimmige Funktionalität des Gesamtorganismus ist, werden diese Vorgänge implizit von eben diesem Zusammenhang, der Kohärenz des ganzen Organismus her gesteuert. Die Kohärenz des übergeordneten Ganzen reguliert das Zusammenwirken seiner Teile. Bei der Genesung von einer Krebserkrankung also reguliert der ganze Mensch die Kooperation seines Immunsystems, seiner Organe und Zellen, seiner Emotionen und sog. Ich-Zustände sowie seines Glaubens usw., um eine möglichst stimmige Lösung zu erreichen. Dabei können und sollen Mitmenschen wie Therapeuten helfen.

Da es sich hier um das Zusammenwirken komplexer dynamischer sowie auch lernfähiger Systeme handelt, erfolgt diese Regulation nicht nach linear-kausalen Gesetzmäßigkeiten, sondern nach nichtlinearen Regeln informationsverarbeitender Systeme. Die Erforschung dieser Regeln ist zur Zeit Gegenstand der Komplexitätsforschung und m.E. noch recht am Anfang, soweit sie lebende Systeme betrifft.

Die Vorgänge innerhalb eines einzelnen Menschen sehen wir seine Wechselbeziehungen in und mit seinen Übersystemen, wie Familie, Kultur, der Biosphäre und dem Sonnensystem. Stress- und Resilienzforschungen haben dazu wichtige Erkenntnisse beigetragen.

Soziologen, Biologen, Epigenetiker, Psychologen und systemisch arbeitende Therapeuten betonen schon länger, dass die Entwicklung von Menschen (wie auch von anderen Lebewesen) „vom Ganzen her“ geprägt wird, wie Ludwig von Bertalanffy, der Vater der Systemtheorie schon vor 80 Jahren festgestellt hat (…).

Unsere eigene Meta-Subjektivität: Reflexion der Auswirkungen

Zusätzlich zu diesen beiden Denkmodellen komplexer dynamischer Systeme brauchen wir noch eine Reflexion unseres eigenen Beobachterstandpunktes und der prinzipiellen Begrenztheit unserer Erkenntnisfähigkeit. Wohl wissend, dass es keine ‚objektiv‘ wahre Erkenntnis geben kann, sondern nur jeweils Ausschnitte, einzelne subjektive Aspekte der Wahrheit. Diese allerdings können sich der komplexen Wahrheit annähern, insbesondere wenn wir unsere Erkenntnisse intersubjektiv austauschen und so zu einer Perspektive eines Meta-Subjektes kommen, aus der dann gemeinsam eine metative Erkenntnis formuliert werden kann.

Diese beiden Denkmodelle und unsere erkenntnistheoretische Reflexion brauchen wir, um Antworten auf die Frage nach gesunder Entwicklung zu finden, ohne die dynamische Komplexität ‚idiotisch‘ zu reduzieren. Diese Arten zu denken stehen im Widerspruch zu den klassischen naturwissenschaftlichen Denkmustern, die 1. Von der Vergangenheit, von ‚Ursachen‘ ausgehen; 2. Von Materie; 3. Vom kleinsten Teil (Analyse)(Individuum, Organ, Zelle, Gen, Molekül…); und 4. Mit der Störung (Krankheit) beginnen. Dabei glauben ihre Anwender an eine vermeintlich ‚objektive‘ Wahrheit und Reproduzierbarkeit ihrer empirischen Wissenschaften.

Die alten (zur Zeit ihrer Entstehung zweckmäßigen) Denkmuster haben zu 1. Der Illusion der exakten Berechenbarkeit, zu Determinismus und Fatalismus geführt; 2. Zu Materialismus; 3. Zu Zerteilung, Trennung, Narzissmus, Einsamkeit und Blindheit für größere Zusammenhänge; 4. Zur Pathologisierung des Lebens, Erfindung von Krankheiten, Stress und Verstärkung des Negativen.

Heute können wir durch erkenntnistheoretische Reflexion des Glaubens der Wissenschaft an die objektive Wahrheit die Rechthaberei, den Größenwahn, die Trennung und ‚Doppel-Blindheit‘ (s. doppelblinde Forschungsmethoden) überwinden.

Praktischer Nutzen salutogenetischer Denkmuster

In Bezug auf Menschen mit Krebserkrankungen und besonders ihre Gesundung bedeutet dies ganz praktisch:

  1. Unsere Aufmerksamkeit auf eine Attraktiva Gesundheit richten, wie der weltberühmte Psychoonkologe Lawrence LeShan es vor 50 Jahren im Bereich der Psychoonkologie schon erfolgreich angewendet hat: „Die Melodie des eigenen Lebens finden“. (vgl. LeShan und Büntig 2013)
  2. Die Wechselbeziehungen zu anderen Systemen, wie Mitmenschen, Institutionen, Menschheit, Natur, Biosphäre usw. einbeziehen und mitgestalten: die Art und Weise der Kooperation und Kommunikation in der Herkunfts- und Gegenwartsfamilie, im kulturellen Umfeld, auch die Normen und Werte, sowie die Umwelt (s.a. Olav…) (s.a. Opfer-Dreieck…).

Das neue Denken führt 1. zu mehr Offenheit gegenüber virtuellen Attraktiva, zu aufbauender, salutogener Kooperation, die sich von gemeinsamer positiver Intentionalität leiten lässt (auch in Vernetzung). Daraus kann eine Kultivierung von Intuition und Mitgefühl, der subjektiven und gemeinsamen Resonanzfähigkeit, als Grundlage für kreative Kooperation entstehen. Hier unterscheidet sich die menschliche Intelligenz wesentlich von sog. künstlicher Intelligenz KI. Dabei können wir erkennen, dass viele wichtige Attraktiva aus der Kohärenz unserer Übersysteme kommen, wie z.B. bedingungslose Liebe aus der Familie, viele Normen und Werte aus der Kultur, ethische Prinzipien und Verantwortungsbewusstsein aus der Verbundenheit der Menschheit und Biosphäre.